Job weg, Frau weg, Freunde weg, Wahlzettel weg!

Kapitel 16

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Die Schmerzen in Steiß und Hüfte sind groß genug, dass ich mich kaum voll aufrichten kann. Mein Körper ist übersät mit blauen Flecken, der getrocknete Schlamm ziept an der Beinbehaarung. Aufs Waschbecken gestützt, sauge ich die Wasserleitung leer und dusche dann meine Haut krebsrot.

Der vom heißen Wasser beschlagene Spiegel verschleiert nur unzureichend meine heruntergekommene Erscheinung, das unrasierte Gesicht, die Augenränder, die Kratzer an der Stirn. Und doch, der tiefe Ansatz meiner dunklen Haare, meine vollständigen Zähne plus grüne Augen helfen mir - beleuchtungsabhängig - jünger auszusehen. Nichts ist verloren, mein Charisma ist intakt, das hat sie letzte Nacht nicht ändern können.

Antiseptisch gereinigt, spüre ich Appetit, Nach-Ziehungs-Hunger, der mich nicht zum ersten Mal selbst geriatrische Speisereste essen lässt. Ich stürze an den Kühlschrank.

Keine Frage, was ich im Kühlschrank sehe, erkenne ich sofort als das, was es ist: nicht essbar, mindestens zehn Jahre alt, gammelig und wahrscheinlich hochgefährlich. Schon als Schüler hatte ich damit Umgang im Sportunterricht. Harter Metallmantel, gefüllt mit einem klappernden Holzteil als Sprengstoffersatz. Diese erdverkrustete Variante, im Volksmund Eierhandgranate, drapiert neben einer in Leichenstarre gekrümmten Möhre und einer angefressenen Tafel Schoki, hat definitiv keinen Kern aus Holz. Der Splint sichert den Bügel, der auf Wunsch den Zünder in Betrieb setzt und mit einer Zeitverzögerung von drei bis vier Sekunden beginnt der Spaß. Eine RD5 oder wie die sonst heißt, eindeutig eine Splitterhandgranate, die einen Feind in oder hinter seiner Deckung niederstreckt und manchmal auch in viele kleine unansehnliche Stücke zerreißt - nicht so effektheischend wie in amerikanischen Kriegsschinken - aber schmutzig. Soviel wenigstens habe ich als Zivildienstverweigerer gelernt. Begeistert nehme ich die Kleine und ein großes Stück Edamer mit an den Küchentisch.

Ein Schmuckkäfer

Ich entreiße meiner verkalkten Kaffeemaschine, die gerade noch hektisch die letzten Tropfen herausrülpsen kann, die Isolierkanne und frühstücke den Brocken Käse und einen Brotkanten, indem ich abwechselnd von beiden abbeiße. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen, so dass ich Licht einschalte, um weiterhin alle Seiten meines Schmuckkäfers betrachten zu können, als wäre er die druckfrische Tageszeitung. Alles steckt da, wo es bei ihm hingehört. Wo ist er hergekommen? Habe ich ihn gegen meine Klamotten getauscht? Oder im Suff gefunden?

So etwas sollte gefeiert und erschütterungsfest verpackt werden.

Mir fällt die Riesenüberraschungsei-Verpackung ein, die aus sentimentalen Gründen noch im Keller liegt. Dank meiner Mutter, die mir zu Ostern diesen tollen, eiförmigen Schoki-Hohlkörper schenkte, besitze ich das ideale Nest für meinen Schmuckkäfer. Auf dem Weg nach unten finde ich mein Paar Socken, völlig versifft, so dass ich sie gleich entsorge, bevor die Nachbarn, das neugierige Gezücht, sich darüber amüsieren können, obschon sie vermutlich bereits meine restlichen Klamotten im Sammelwahn an sich rissen, denn die bleiben für immer verschwunden. Die Schachtel ist minimal zu groß, aber ich stopfe mit Ostergras aus.

Von innen komplett mit Selbstwertgefühl gepolstert, weiß ich, dass mein Schmuckkäfer natürlich nur im Schlafzimmer angemessen platziert ist: Morgens das Erste, am Abend das Letzte, was ich sehen will.

Ich finde mich grandios.

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© 2004 Thomas Both & Steffen Sommer
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